Postionspapier: Hartz IV reformieren

von Wolfgang Tiefensee, Vorsitzender der SPD Thüringen

Die SPD braucht dringend eine Neuorientierung. Sie muss auf die Veränderungen und neuen Herausforderungen unserer Gesellschaft reagieren. Die bestehenden Probleme und gesellschaftlichen Verwerfungen müssen aufgenommen und in wirksame politische Projekte übersetzt werden. Nur so kann die Lebenswirklichkeit der Menschen spürbar zum Besseren entwickelt werden. Hierzu gehört es auch, sich den eigenen Entscheidungen der Vergangenheit zuzuwenden und sie auf den Prüfstand stellen. Auch wenn das nicht leicht fällt. Aber wer ungeklärte Fragen mit sich trägt, wird nicht frei sein, Neues zu denken. Das gilt auch für die SPD. Die Reform des Arbeitsmarktes in den Jahren 2003 bis 2005 ist ein Thema, das bis heute nicht richtig angegangen wird. Damit ist es weitgehend unbearbeitet. Es belastet und lähmt die SPD. Das vorliegende Papier setzt genau an dieser Stelle an.

Wir müssen uns den Erfahrungen mit Hartz IV stellen. Die Situation analysieren. Fehler eingestehen. Und notwendige Veränderungen anpacken.

Mit der Agenda 2010 wollte die damalige rot-grüne Bundesregierung eine grundlegende Weichenstellung in den Bereichen Arbeit und Wirtschaft sowie soziale Sicherung und Haushaltskonsolidierung vornehmen. Die Konjunktur sollte und musste angekurbelt und die Arbeitslosenquote gesenkt werden. Ein Wirtschaftswachstum gab es praktisch nicht mehr. Bundesweit gingen die Investitionen zurück. Der Staat und die Kommunen ächzten unter wachsenden Sozialausgaben. Nicht zuletzt galt auch das bestehenden Leistungssystem als ineffizient und korrekturbedürftig. Damals wie heute bestand Handlungsbedarf.

Obwohl zentrale Zielstellungen der Reform eingetreten sind, die Erwerbstätigkeit und Beschäftigung ist gestiegen und die Arbeitslosenquote ist heute auf einem Rekordtief, ist kaum eine Reform seither so umstritten. Denn die Schattenseiten sind unabweisbar: Die Einführung von Hartz IV hat für viele Menschen zu finanziellen Verlusten geführt. Das gilt insbesondere für Ostdeutschland. Viele Menschen mit einem Arbeitsplatz sind verunsichert. Sie befürchten den schnellen sozialen Abstieg. Auf Grund sozialer Abstiegsängste sahen und sehen sich viele Menschen genötigt, auch prekäre Beschäftigungen aufzunehmen. Dies führt zu einer Entwertung der Arbeit und begünstigt den sprunghaften Anstieg prekärer Arbeitsverhältnisse. Und nicht zuletzt hat sich Hartz IV zu einem Bürokratiemonster entwickelt.

Wir müssen uns dieser Situation stellen und umsteuern. Wir müssen uns die Fehler der Vergangenheit eingestehen und zügig Veränderungen in der Arbeitsmarktpolitik vornehmen.

Leitend sollte dabei die Feststellung sein, dass die meisten Menschen arbeiten wollen. Die meisten Arbeitssuchenden, unter ihnen auch die, die Hartz IV beziehen, arbeiten aus eigenem Antrieb und aktiv an der Veränderung ihrer Situation. Es ist daher an der Zeit, die Hartz-IV-Reform an den aktiven Arbeitssuchenden auszurichten. Das bedeutet, sie nicht nur in einzelnen Punkten zu ändern oder anzupassen. Wir müssen die Reform reformieren. Unser Ziel muss es sein, Schritt für Schritt Hartz IV überflüssig zu machen.

 

Was geändert werden muss:

(1)       Wer länger gearbeitet hat, hat länger Anrecht auf Arbeitslosengeld I. Schon jetzt wird die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes am Alter und der Beschäftigungszeit orientiert. Dies reicht aber noch nicht aus. Die Bezugszeiten vom Arbeitslosengeld sollen ab dem 50 Lebensjahr 18 Monate und ab dem 58. Lebensjahr wie bisher 24 Monate betragen. So geben wir Menschen, die schon lange gearbeitet haben mehr Zeit sich neu zu orientieren.

(2)       In Zukunft muss in den Jobcentern nach aktiven und inaktiven Arbeitssuchenden unterschieden werden. Es wird zukünftig in das Ermessen der Fallmanagerinnen und Fallmanager gestellt, zu welcher Gruppe der oder die Arbeitssuchende zählt. Sie entscheiden, welche Vorgehensweise in Betracht kommt und ob im Einzelfall Sanktionen bei nicht erfolgter Arbeitsaufnahme verhängt werden. Zugleich fordern wir, dass bei Jugendlichen und Erwachsenen die gleichen Kriterien Anwendung finden.

(3)       Ab dem 50. Lebensjahr wird das erarbeitete Vermögen nicht mehr für den Bezug von Arbeitslosengeld II herangezogen. Damit wollen wir die Lebensleistung eines Menschen anerkennen und Sicherheit für das Alter schaffen.

(4)       Die gegenseitige Anrechnung von Einkommen in Bedarfsgemeinschaften gehört auf den Prüfstand. Wir wollen prüfen, wie diese Regelungen im Gesamtkontext unseres Sozialrechts geändert werden können. Unser Ziel ist es, dass Menschen, die zusammenleben wollen, dafür nicht mit finanziellen Einbußen bestraft werden.

(5)       Der Staat darf Engagement der Schulen und Sozialverbände nicht erschweren. Bei allen Zusatzleistungen für Kinder, wie beispielsweise Spenden und Unterstützungsleistungen, darf keine Verrechnung mit den Regelsätzen erfolgen. Das erleichtert die Arbeit mit den Kindern und reduziert den Prüfaufwand in den Jobcentern.

(6)       Die Bagatellgrenzen für Anrechnungsfragen müssen angehoben werden. Das gilt insbesondere für Jugendliche, die einem Schülerjob (Zeitung austragen) nachgehen. Es gilt aber auch für Erwachsenen, die einer gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen Tätigkeit nachgehen und hierfür eine Entschädigung erhalten.

(7)       Die durch die Entbürokratisierung frei werdenden Mittel müssen zu Gunsten einer neuen Ausrichtung der Jobcenter genutzt werden. Wir wollen, dass die Mitarbeiter mehr Zeit auf die Förderung und Unterstützung Arbeitssuchender verwenden können. Hierzu muss es auch mehr sozialpädagogisch ausgebildete Mitarbeiter geben. Ideen der Beschäftigten zur Entbürokratisierung sind sehr willkommen.

(8)       Es braucht einen staatlichen geförderten Arbeitsmarkt für diejenigen, die auf dem ersten Arbeitsmarkt langfristig keine Chance haben, eine Anstellung zu erhalten. Es ist für alle Beteiligten besser, wenn ein Mensch ein Entgelt für eine geleistete Arbeit anstatt Sozialleistungen erhält.

(9)       Es muss ein Recht auf Weiterbildung geben, das jedem die Chance auf berufliche Neuorientierung bietet. Wenn sich die Berufswelt z.B. durch die Digitalisierung oder die Energiewende wandelt, unterstützen wir die Weiterentwicklung der Menschen. Zeiten der Weiterqualifizierung werden nicht auf die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds angerechnet. Hier stellt das Qualifizierungschancengesetz einen ersten wichtigen Schritt dar.

(10)    Mit einer kraftvollen Kommunikationsstrategie muss der Bevölkerung ein realistisches Bild von der Situation Arbeitssuchender vermittelt werden. Wir brauchen in vielen Fällen Verständnis anstelle von Ablehnung. Die Zivilgesellschaft muss an ihre Verantwortung erinnert werden, dass die Beseitigung von Arbeitslosigkeit nicht allein Aufgabe des Staates, sondern aller Akteure in der Gesellschaft ist.


Ausführliche Version:

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PDF: Positionspapier