Arbeitnehmer*innen in der Krise

Diana Lehmann und Matthias Rudolph

Zum ersten Mal seit der Einführung des Tags der Arbeit am 1. Mai finden keine Mai-Veranstaltungen statt. Die Corona-Krise hat nicht nur im öffentlichen Leben große Einschnitte bewirkt, auch das Arbeitsleben wurde auf den Kopf gestellt. Während Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Gesundheitswesen und öffentlicher Infrastruktur wie Müllentsorgung, Post, Feuerwehr u.v.a. in Teilen noch mehr arbeiten (müssen) als sonst, arbeiten viele Menschen im Homeoffice. Wiederum andere sind in Kurzarbeit oder sind von Arbeitslosigkeit bedroht.

Im Interview befragen wir Diana Lehmann, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmer*innenfragen gemeinsam mit Michael Rudolph, Bezirksvorsitzender des DGB Hessen-Thüringen zur Arbeitswelt in der Corona-Krise.

 

Von Kurzarbeit bis Homeoffice – jeder Arbeitnehmer, jede Arbeitnehmerin ist in irgendeiner Form von Veränderungen durch die Corona-Krise betroffen. Wie wird diese Situation die Arbeitswelt nachhaltig verändern?

Rudolph: Mittlerweile haben viele ein Gefühl dafür entwickelt, was Homeoffice bedeutet, sowohl positiv als auch negativ. Früher haben sich das Manche nur positiv vorgestellt, heute sehnen sie sich nach den sozialen Kontakten bei der Arbeit. Skeptiker sind vielleicht von den Vorzügen überrascht. Deshalb glaube ich, dass es auf jeden Fall Veränderungen geben wird. Wir müssen die Erfahrungen, die wir jetzt machen, in die Debatte um den Wandel der Arbeitswelt mitnehmen. Digitalisierungsprozesse, die Transformation vor dem Hintergrund des Klimawandels – das sind Prozesse, die auch nach Corona weiterlaufen. Auch die staatliche Intervention, um Beschäftigte zu schützen hat sich bewiesen. Das müssen wir weiter gestalten.

Lehmann: Vieles hat sich in der Krise bewährt. Beispielsweise die Möglichkeit zum Homeoffice, wo sich bislang Arbeitgeber verweigert haben. Trotzdem zeigt es für die, die die Kinder betreuen müssen, dass das Grenzen hat. Wir sehen auch, dass Menschen finanziell bedroht sind, weil sie in Kurzarbeit sind. Das wirkt sich auf die ganze Familie aus. Im Osten nochmal stärker als in Westdeutschland. Da gibt es natürlich Unsicherheit, welche Folgen das für den Arbeitsplatz auf Dauer hat. Ich sehe eine große Gefahr, wenn auf der einen Seite so gut wie alles möglich gemacht wird, damit sie weiter arbeiten können – und es auf der anderen Seite Menschen gibt, die deshalb massiv verlieren.
Deshalb ist es sehr wichtig, sich jetzt zu organisieren und um die Arbeitsplätze zu kämpfen oder darum, dass man nicht in Kurzarbeit muss, wenn es auch anders geht. Insgesamt hoffe ich, dass das positive Veränderungen für die Arbeitswelt hat, für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber das ist kein Selbstläufer!

Rudolph: Wichtig ist jetzt die Frage der Rahmenbedingungen für die Arbeitswelt. Dazu gehört eine funktionierende Kinderbetreuung und funktionierende Pflege von Angehörigen. Aber auch die ganze Frage der Arbeitslosenversicherung und dem Pfund, das wir haben, mit der Bundesagentur für Arbeit und ihrer Leistung, auf beiden Wegen finanziert. Es wird ja immer mal wieder in Frage gestellt, bis hin zu einer möglichen Privatisierung. Diese Diskussion muss jetzt endgültig vom Tisch. Denn durch diese Krise kommen wir gerade wegen einem funktionierenden Sozialsystem und vor allem wegen des Versicherungsbestandteils der Arbeitslosenversicherung.

 

Kevin Kühnert sagte neulich im Spiegel-Interview: „Die Krise bringt uns zu der wichtigen Frage: Was ist eigentlich systemrelevant? In der Finanzkrise 2008 und 2009 haben alle auf Banken geschaut. Jetzt wird klar: Es geht auch um Pflegekräfte, medizinisches Personal und Menschen, die im Supermarkt an der Kasse sitzen. Sie halten den Laden am Laufen. Sie sind unbestreitbar systemrelevant.“
Welche Lehren müssen wir daraus ziehen?

Lehmann: Dass wir diese Menschen besser bezahlen und bessere Arbeitsbedingungen ermöglichen müssen. Zum Beispiel ist der Einzelhandel in den letzten 15, 20 Jahren von einer massiven Deregulierung gekennzeichnet. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, da gab es einen langen Einkaufstag in der Woche, an den anderen hatten die Geschäfte nur bis 18 Uhr auf. Das ist heute anders, die Leute sind daran gewöhnt, online rund um die Uhr einkaufen zu können. Heute geht es darum zu fragen: Wie sollen die Arbeitsbedingungen dabei aussehen? Was wir während der Corona-Krise gut lernen können ist, dass Wertschätzung mehr ist, als nur Danke zu sagen. Wir brauchen mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen. Das bedeutet in manchen Bereichen, dass Preise steigen werden. Aber das ist nun mal die Konsequenz, wenn ich Menschen anständig bezahlen möchte. Und es bedeutet ja auch, dass am Ende jeder mehr Geld im Portemonaie hat. In Thüringen gibt es das gute Beispiel des AWO-Regionalverbandes Mitte-West-Thüringen. Die haben jetzt einen Tarifvertrag mit ver.di abgeschlossen. Solche Beispiele zeigen wie tatsächliche Verbesserungen aussehen können.

Rudolph: Ich stimme voll und ganz zu. Wir brauchen mehr Geld im System, gerade im Gesundheits- und Pflegebetrieb.  Es ist auch die Frage wie viele Mittel von gesellschaftlichen Ressourcen ich wohin leite. Diana hat zu Recht die Frage der Einkommen beispielsweise in der Pflege angesprochen, als ein Beruf, der auch politisch steuerbar ist. Die Pflegeheime, die Krankenhäuser müssen mit dem Geld ausgestattet werden, um diese Löhne bezahlen zu können. Und auch das zeigt sich in der Krise: Wie wichtig ein funktionierendes, flächendeckendes Netz der Gesundheitsvorsorge ist sowie hohe Standards in Pflegeheimen. Das sollten wir in die politische Diskussion nach der Krise mitnehmen. Mit einer Sache würde ich jetzt ungerne warten bis nach der Krise, nämlich die Frage, diese Wertschätzung auch im Geldbeutel spüren zu lassen. Ich bin der Meinung, dass wir jetzt schnell die Entscheidung brauchen, dass die Kolleg*innen, die in systemrelevanten Bereichen arbeiten, mindestens 500 Euro Zuschlag im Monat bekommen und zwar von den Arbeitgebern. Da sind wir jetzt zu Verhandlungen aufgefordert. Es wurde bereits schon klargestellt, dass das steuerfrei ist. Jetzt müssen wir an die Frage anknüpfen, wir das tariflich geregelt wird.

Lehmann: Auf jeden Fall. Jeder weiß, wie wichtig Wertschätzung oder ein Danke auch bei der Arbeit ist. Aber wenn ich nicht weiß, wie ich meine Familie ernähren oder meine Miete zahlen soll, dann nehme ich das Geld, nicht das Dankeschön.

 

Sollten nicht alle betroffenen Branchen nach der Krise sofort in den Arbeitskampf, um das Argument „Systemrelevanz“ nicht in Vergessenheit geraten zu lassen?

Rudolph: Die Tarifrunden werden kommen, in den unterschiedlichen Branchen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Aber die Gefahr besteht, deshalb ist es umso wichtiger, dass diese gesellschaftliche Debatte bis dahin weiterläuft. Wir haben eben schon gesagt, dass höhere Löhne finanziert werden müssen. Den Menschen muss klar werden, dass Preise steigen und Leistungen teurer werden. Dass der Staat dafür auch mehr Geld ausgeben muss. Tarifrunden reichen da nicht mehr aus. Ich glaube, die Antwort ist jetzt gegeben in der Krise. Das starke Lohngefälle des zu verarbeitenden Gewerbes, Dienstleistungsbereichen und der Sorge am Menschen ist nicht gerechtfertigt. Alle reden von den systemrelevanten Bereichen – und alle wissen, dass in diesen Bereichen am schlechtesten verdient wird. Das muss sich ändern.

Lehmann: Wir erinnern uns an die Tarifrunde im Kommunalbereich vor circa drei Jahren, als die Erzieherinnen und Erzieher das erste Mal richtig gestreikt haben. Damals war das Verständnis derjenigen, die von dem Streik betroffen waren, recht überschaubar. Ein Tarifstreik bedeutet aber, dass am Ende auch jemand merken muss. Sonst funktioniert der Streik als Protest nicht. Das muss manchmal auch ein bisschen wehtun. Wir müssen die Menschen daran erinnern, dass die Unterstützung für bessere und faire Bezahlung so aussieht, dass man nicht schimpft, sondern sagt, das finden wir gut, weil wir wollen, dass ihr gut bezahlt werdet – das ist der gesellschaftliche Beitrag, den man leisten kann.

 

Bietet sich jetzt, bzw. nach der Krise die Chance, der Digitalisierung in der Arbeitswelt einen Schub zu geben? Was ist dafür zu tun?

Rudolph: Auf jeden Fall. Es ist klar, dass das Homeoffice für viele Menschen Gold wert ist, weil sie so Familie und Beruf besser vereinbaren können. Ein Fehler sollte aber bitte nicht gemacht werden: Homeoffice mit gleichzeitiger Kinderbetreuung zu verwechseln. Das höre ich jetzt öfter. Aber die Situation ist gerade für viele Eltern die Hölle. Wenn beide arbeiten und zu Hause noch die Kinder sind, dann ist das nicht entspannt, sondern das ist Schichtbetrieb. Ich kenne viele Familien, da steht der eine morgens um 4 Uhr auf, damit die andere dann bis nachts um 22 Uhr arbeitet und man dazwischen noch die Kinder betreuen kann. Das ist keine Lösung. Digitalisierungsmöglichkeiten zur persönlichen Anpassung zu nutzen, ist wichtig, aber bitte auch die Leute nicht aus dem Blick verlieren, deren Arbeit sich nicht einfach im Homeoffice erledigen lässt.

Lehmann: Ich erwarte jetzt auch von den großen und von den öffentlichen Arbeitgebern, dass sie mit gutem Beispiel vorangehen. Viele Kommunen haben immer noch keinen Plan, wie sie Arbeit digitalisieren sollen. Wir haben in den vergangenen Jahren so viele Mittel zur Verfügung zur Verfügung gestellt, um die Digitalisierung öffentlicher Infrastruktur zu ermöglichen, da muss die Umsetzung auch endlich folgen. Jetzt sollte auch der letzte verstanden haben, wie wichtig es ist, hier voranzukommen. Die Angst davor ist teilweise auch irrational: Die wenigsten Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer wollen zu hundert Prozent zuhause arbeiten. Die meisten kommen gerne ins Büro, aber benötigen mehr Flexibilität. Manchmal ist die Wahl, ob man eine einzelne Aufgabe zuhause oder im Büro erledigen kann, schon entscheidend, weil vielleicht der Arbeitsweg genau zu diesem Zeitpunkt stört. Das bedeutet aber auch auf der anderen Seite auf keinen Fall, dass man rund um die Uhr erreichbar sein darf, sondern es geht um die Arbeit in einem begrenzten zeitlichen Rahmen. Letztlich sollen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, aber auch der Arbeitgeber etwas davon haben.

Rudolph: Genau. Die Debatte darf man nicht auf diese Homeoffice Frage begrenzen. Es geht um die Humanisierung der Arbeit, so hat man es früher genannt. Also: Wie können technische Hilfsmittel auch schwere körperliche Arbeit entlasten. In der Corona-Krise zeigt sich übrigens auch, dass es problematisch ist, wenn alles auf Kante genäht ist. Wir brauchen mehr Entspanntheit an der Arbeit, wir brauchen mehr Pausen, Gesundheitsschutz und wir sollten die Digitalisierung in allen Bereichen, wo das möglich ist, dazu nutzen, den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern das Leben leichter zu machen und ein bisschen zu entschleunigen. Und dass Entschleunigung funktioniert, erleben wir gerade.